Prozess von Kevin J. am Dienstag dem 16. Juni 2020 im Amtsgericht

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Nach 174 Tagen Untersuchungshaft wird Kevin mit Applaus im Gerichtssaal empfangen.

Der Prozess beginnt mit einer Einlassung von Kevin. Zu den Vorwürfen der Silvesternacht räumt er ein geschubst worden zu sein, woraufhin er versuchte zurück zu treten. Danach wurde er umstellt. Die folgenden Beleidigungen täten im Leid, er war wütend. Im Zentralen Polizeigewahrsam (ZPG) habe er sich aus Verzweiflung gegen die Beamten gewehrt, nachdem er zwei Tage in Unwissenheit gelassen wurde. Er wäre zufällig am Connewitzer Kreuz gewesen, da er sich zunächst mit einem Freund getroffen hatte und dann ziellos durch die Gegend gelaufen sei. Zum Vorwurf der Beleidigung am 13.12.2019 räumt Kevin Restalkohol und seine Wohnsituation ein.

 

Zeugenanhörung

Nach der Einlassung werden drei von zehn anwesenden Polizei-Zeugen gehört. Nach einer kurzen Befragung sollen sie sich selbst in einem Video identifizieren und ihre Interaktion mit Kevin erklären. Um Kevin zu identifizieren dienen lediglich weiße Schuhe als Anhaltspunkt, die getragen zu haben er ebenfalls zugegeben hat.

Polizist Schulz:

Hat im Augenwinkel eine wischende Bewegung wahrgenommen, angeblich ein Schuh von Kevin. War an Festnahme sowie Blutalkoholkontrolle beteiligt, wobei er beleidigt wurde. Kevin habe den Zugriff erschweren wollen. Schulz will den Angeklagten auf dem Video erkannt haben. Staatsanwaltschaft (StA) Ricken fragt Schulz, ob der Angeklagte beim Zugriff die Fäuste erhoben hat, woraufhin Schulz einräumt sich nicht erinnern zu können. Er weiß auch nicht, ob er getreten wurde oder wann die Beleidigungen stattgefunden hat. Zur allgemeinen Situation am Connewitzer Kreuz kommentiert er, dass es sich um einen schweren Angriff gehandelt habe, der lange nicht zur Ruhe kam, da immer wieder Steine und Flaschen flogen.

Polizist Thomas Böhme, 32:

„Ich bin fast jedes Jahr auf Grund der Feierlichkeiten am Kreuz“, beginnt der sehr selbstsicher auftretende Cop. Der Angeklagte sei in Kampfstellung auf ihn zugekommen, hatte die Fäuste erhoben. Böhme fixierte ihn daraufhin und schlug ihm mehrfach in die Magengegend. Diese „spezielle Schocktherapie“ sei nötig gewesen erklärt er schmunzelnd. Er hatte Kevin erst wahrgenommen, als er helle Schuhe auf Höhe der Westen gesehen hat. Böhme konnte sich auf Video direkt selbst identifizieren.

Polizist Nickolas Bula (oder Buhler / Wuhla), 25:

Die Cops Bula, Buschke und Bauer hatte zusammen den Sicherungsauftrag für Kevin. Teilweise war auch Schulz bei ihnen. Kevins Verhalten wäre bedrohlich gewesen: Bei der Fingerpistole habe er sogar den imaginären Abzug gedrückt. „Polizisten sind keine Menschen, sondern Dreck“ und dass er sie alle erschießen, ihre Familien verbrennen möchte, dass sie „Arschlöcher sind, die sich in den Arsch ficken sollen“ habe er gesagt. Zudem hätte sich Kevin während der Maßnahme zu viel bewegt, ja sogar Liegestütze gemacht. Er roch nach Alkohol.

Die Richterin Riedel weißt ihn darauf hin, dass sein Adhäsionsantrag, welcher wohl von den meisten Cops gestellt wurde, bei einer Beleidigung kaum erfolgversprechend ist. Bula zieht den Antrag daraufhin zurück. Lichtenberger, Bauer und Schultz lassen ihren im Januar 2020 gestellten Strafantrag fallen.

Anschließend wird der erste Entlastungszeuge gehört. Er ist ein anscheinend ein Freund von Kevin:

Er erinnert sich nur noch schwammig. Nachdem der Zeuge Silvester erst alleine verbringen wollte und sich eine Flasche Schnaps gekauft hat, rief er Kevin an, woraufhin sie sich am Hauptbahnhof getroffen haben. Von dort aus sind sie mit Zwischenstopps bis zum Spätverkauf an der Richard-Lehmann-Straße gelaufen und haben sich dort eine Flasche Schnaps gekauft. Anschließend kamen sie ohne bestimmte Intention zum Connewitzer Kreuz. Dort standen sie durchgehend nah beieinander. Plötzlich kamen Polizeibeamte zielgerichtet auf Kevin zu und wollten Kevins Taschen durchsuchen. Darauf erkundigte sich der Zeuge, ob seine Taschen ebenfalls kontrolliert werden würden, was verneint wurde. Kevin ist den Beamten ohne sich zu wehren gefolgt. Später hat der Zeuge Kevin angerufen. Eine Polizistin ist ans Telefon gegangen. Koch erkennt sich auf dem Video nicht, hat auch nicht den Vorschlag der Richterin angenommen, wer er sein könnte.

Bei der Betrachtung des Videos hebt die Richterin hervor, dass im Umkreis von 5 Meter um Kevin keine Person auf dem Video zu erkennen ist. Die Richterin merkt an, dass die Situation dann wohl zuvor gewesen sein muss.

 

Da auf den Zeugen Andreas Martin, Polizeibeamter im ZPG, gewartet wird stellt die Richterin viele persönliche Fragen und hakt intensiv, gerade zu penetrant nach. Wir fassen diesen Abschnitt stark zusammen:

Nach Fragen zu seiner Familie erkundigt sich die Richterin unvermittelt, woher er denn eigentlich kommen würde. Er fragt daraufhin wieso das hier jemanden interessiere und ergänzt zynisch: „Afrika. Ne quatsch, ich bin schon immer deutsch“. Als es um seine Schullaufbahn geht betont er, dass er irgendwann keine Lust mehr auf die Unterdrückung hatte. Die Richterin erkundigt sich penetrant, ob er nicht erneut zur Schule möchte, denn „jede Haftzeit hat ihr Ende“. Danach werden Alkohol, Drogen und Entzug thematisiert. Kevin hebt dabei hervor, wie schwer das Leben auf der Straße ist, dass er immer wieder aufhören wollte. Die kalte Entlassung nach der Haft und die Stigmatisierung dadurch sind eine zusätzliche Belastung auf Job- und Wohnungssuche. Drogen und Alkohol schleichen sich ein, da dann die Situation nicht mehr ganz so schlimm ist. Die Richterin erwidert: „Ja, das Leben ist manchmal nicht so leicht.“

Nach einem psychologischen Gutachten wird die Strafakte verlesen, die wir ebenfalls nicht veröffentlichen. Danach fragt die Richterin weshalb er keine Wohnung hat, worauf er erklärt, dass während der Haft keine Besichtigungen stattfinden konnte. Er habe viel versucht, aber am Ende stand er mit 300 Euro und einem „das wird schon“ auf der Straße.

Mittlerweile war Andreas Martin eingetroffen, Polizeibeamter im ZPG:

Am 01.01. war Kevin um 09:30 Uhr aus der Zelle geflohen, als die Beamten Martin & Martin Wasser holten. Beim Versuch ihn wieder einzusperren, hielt sich der Beschuldigte an einem Geländer fest. Beim Versuch ihn zu lösen ist A. Martin auf den Rücken gefallen, aber unverletzt geblieben, wie er beteuerte. Als Kevin später erneut um Wasser bat, hat er sich bei dem Beamten entschuldigt.

StA Ricken fragt ob Martin den Angeklagten von früher kennt und ob es schon zu tätlichen angriffen Angriffen gekommen sei. Martin bejaht, Kevin habe immer gemeckert, es sei aber noch nie zu einem körperlichen Angriff gekommen.

Damit war die Beweisaufnahme abgeschlossen und die Plädoyers folgten.

 

Plädoyers von StA Ricken:

Die Anklage wurde von Kevin sowie die Beweise und Zeugen bestätigt. Es ergeben sich

A – das Treten in Richtung von Schultz, wofür sich Kevin entschuldigt hat. Hinzu kommt, dass Kevin in Kampfstellung gegangen ist, leichtes Wehren beim Wegtragen. Das erfüllt tätlichen Angriff und Widerstand.

B – die gestandene Beleidigung und Bedrohung der Cops Bula, Bischoff und Bauer.

C – das ebenfalls gestandene Schubsen in der ZPG von Beamten Martin. Wobei der StA anmerkt, dass Kevin möglicherweise nicht den Grund seiner Inhaftierung wusste. Das erfüllt tätlichen Angriff und Widerstand.

Strafrahmenverschiebung wegen Alkoholkonsum sei nicht möglich. Kevin sei Alkohol gewöhnt und seine Begleitung (der Entlastungszeuge) hatte angegeben noch mehr betrunken zu sein. Der Beschuldigte sei höchstens enthemmt gewesen.

Als Strafverschärfende Gründe führt der StA

1. erhebliche und einschlägige Voreintragungen,

2. Rückfallgeschwindigkeit anhand der Beleidigung vom 13.12.2019 sowie

3. die „dynamischen“ Ausschreitungen an, wegen derer es nachvollziehbar ist, dass Schultz Kevin beiseite „drücken“ wollte.

Ricken forder für Strafkomplex A 1 Jahr, B 6 Monate, C 9 Monate sowie 3 weitere Monate für die Beleidigung im Jahr 2019. Da der Angeklagte geständig war könne die Strafe auf 1 Jahr und 6 Monate zusammengezogenen werden. Eine Bewährung sei wegen der schlechten Sozial- und Kriminalprognose und auf Grund der Tatsache, dass sich Kevin trotz des Alkoholproblems „gerne mal einen genehmigt“, nicht gegeben.

 

Plädoyer des Anwalts:

Kevin hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Zur Tatzeit hatte Kevin eine schwere persönliche Situation, Obdachlosigkeit und ein Alkoholproblem, wie auch das Gutachten bestätigt habe. Die Gewalt ging an Silvester nicht von ihm aus. Um ihn herum war viel Platz, weswegen es keinen Anlass gab Kevin wegzuschieben. Seine Reaktion sei trotzdem nicht gut gewesen, wofür er sich entschuldigt. Er hat zwar Widerstand geleistet, allerdings dauerte diese nur sehr kurz an. Keiner der Beamten ist verletzt. Im ihm im ZPG wurden ihm falsche Anschuldigungen (Gefangenenbefreiung) vorgehalten. Hinzu kommt, dass Kevin mehrfach bei einer Suchtberatung war. Das Urteil sollte daher deutlich unter der Forderung des StA liegen.

 

Plädoyer von Kevin:

Er ist geschockt von der StA. Besonders wenn er daran denkt, dass ihm an dem Abend ein Zahn ausgeschlagen wurde. Er wusste zwei Tage nicht was los ist, in der ZPG wurde ihm nur irgendetwas von Mord erzählt. Er hat viele schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. „Welcher 40-jährige schlägt einen 16-jährigen wegen einem geklauten Snickers?“ Er wird von der Polizei immer herausgepickt. Er steht in einer Menschenmenge von 200 Leuten und trotzdem wird nur er kontrolliert. Er ist rassistische Beleidigungen gewohnt. Die ganzen Vorfälle stauen sich an und irgendwann geht es einfach nicht mehr. Das ist aber keine Rechtfertigung für sein verhalten.

Nach der Haftentlassung mit einem „du kommst schon klar“ fertigzuwerden ist hart. Er bittet darum eine Chance bekommen.

Nach 45 Minuten Pause wird um 11:45 das Urteil verkündet.

 

Urteilsverkündung

Kevin ist schuldig in zwei Fällen tätlichen Angriffs und Widerstand, in drei Fällen von Beleidigung mit Bedrohung in Tateinheit. Zwar habe die Richterin erwartet, dass er mit einem anderem Motiv am Connewitzer Kreuz gewesen wäre. Sein Geständnis und seine Erklärung ergeben ein unerwartetes Motiv, da er sich mit seinem Freund getroffen hat.

Zum Tathergang schildert die Richterin: Es kam zu einer kurze Auseinandersetzung unter Alkoholeinfluss. Kevin wurde gestoßen. Er hat getreten aber nicht getroffen und wenige Sekunden widerstand geleistet. Niemand wurde verletzt. Später gab es Beleidigungen und Bedrohungen (Wiederholung; siehe oben). Im ZPG kam es erneut zum Widerstand und einem Angriff (Wiederholung; siehe oben). Am 13.12.2019 habe er einen Mittelfinger gegen Polizeibeamten gestreckt, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen.

Kevin hat Reue und Schuld glaubhaft zum Ausdruck gebracht. Aufgrund des Promillewerts von 1,7 ergibt sich keine Strafrahmenverschiebung, es wird aber zu seinen Gunsten auslegt. Für Kevin spricht, dass er in der U-Haft nüchtern war (was die Richterin zuvor angezweifelt hatte), dass er keinen Wohnsitz und schwere Bedingungen hatte. Und trotz der von Corona erschwerten Haftzeit Beratungstermine zur Suchttherapie wahrgenommen hat.

Es ergibt sich eine Strafaufschlüsselung von:

Tat A : 8 Monate (31.12.2019)

Tat B : 4 Monate (31.12.2019)

Tat C : 6 Monate (31.12.2019)

Tat D : 2 Monate (13.12.2019)

Auf das „äußerste zusammen gestrafft“ ergäben sich 14 Monaten Haft ohne Bewährung, wofür die Begründung der StA übernommen wird. Die entstandenen Kosten trägt der Verurteilte.

Die U-Haftgründe waren: Fluchtgefahr und Wiederholungsgefahr.

Eine Verkürzung der Haftzeit auf die Hälfte oder zwei Drittel könnte bei ihm im Raum stehen und werde ihm durch sie nicht verwehrt, danach könne er in Therapie gehen. Die Prüfung einer Haftzeitverkürzung würde bei ihr stattfinden und sie würde ihm wohlwollend begegnen.

Nachdem Kevin zu Beginn des Prozesses mit Applaus begrüßt wurde gab es bei der Verkündung des Urteils Buh-Rufe aus dem Publikum. Nach der Verhandlung teilt Kevin mit:

 

„Es ist nicht rechtens, ich gehe in Berufung“

 

 

Stand: 30.06.2020