Erklärung zum Prozess von Kevin J. am 23. Juni 2020

Heute wurde Kevin J. nach 174 Tagen U-Haft zu 14 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, da er in der Silvesternacht 2019 zwei Polizeibeamte tätlich angegriffen, danach Widerstand geleistet sowie drei weitere beleidigt und bedroht haben soll. Hinzu kommen ein weiterer tätlicher Angriff und Widerstand im Zentralen Polizeigewahrsam (ZPG) am Folgetag und eine Beleidigung im Dezember 2019. So weit, so bedrohlich.

Nach der Verhandlung ruft uns Kevin zu: „Es ist nicht rechtens, ich gehe in Berufung!“ Eine aus unserer Sicht gut nachvollziehbare Entscheidung. Die Einzelheiten der Verhandlung veröffentlichen wir zeitnah in unserem Prozessbericht. Zunächst lässt sich aber feststellen, dass der Verurteilung ein Tritt, ein Beamter mit schlechtem Gleichgewicht und ein paar betrunkene Beleidigungen (denen wir uns großteils anschließen können) zu Grunde liegen. Im folgenden beleuchte wir die Hintergründe des Urteils:

1. Abschreckung

Ein Video der Silvesternacht zeigt, wie Kevin von der Polizei zur Seite geschubst wird, woraufhin er stolpert oder den Polizisten tritt – letzteres ist nicht genau zu erkennen. Unmittelbar darauf stürmen bereits drei Beamte auf Kevin zu und überwältigen ihn brutal.

Im heutigen Prozess wird klar: Jede Reaktion auf eine polizeiliche Maßnahme ist unerwünscht. Zuwiderhandlung muss unmittelbar und hart bestraft werden, damit die Hegemonie der Polizei nicht in Frage gestellt wird. Das zeigt sich sowohl im individuellen Handeln der einzelnen Beamten, als auch in der zugrunde liegenden Gesetzgebung. So wurde zuletzt 2017 die Möglichkeit zur Abschreckung mit der Schaffung des „Tätlichen Angriffs“ ausgebaut, womit praktisch jede Widerstandshandlung gegen die Polizei zu einem Angriff wird.

Zu Silvester 2019 begegnete die Polizei der allgemeinen Ablehnung am Connewitzer Kreuz in diesem Sinne direkt und unmittelbar, nimmt sich den öffentlichen Raum und ahndet jede Zuwiderhandlung, wie jedes Jahr.

2. Anfänge

Viele Ausschreitungen der letzten Monate haben genau so ihren Anfang gefunden: Die Polizei macht sich im öffentlichen Raum breit und demonstriert ihre Macht – wohl wissend, dass sie unerwünscht ist. In Situationen wie der Silvesternacht geschieht dies derart übergriffig, dass eine Reibung absehbar ist – oder einkalkuliert, wie wir bzgl. Silvester 2019 gezeigt haben.

Um dabei ihre Legitimation aufrecht erhalten zu können, stellt die Polizei ihre Machtdemonstration als notwendiges Mittel dar um gegen rechtsfreie Räume wie die Eisenbahnstraße und Connewitz, gegen die dort lebenden „Kriminellen“ vorzugehen. Hier gelinkt die Umkehrung von Aktion und Reaktion dann besonders einfach, handelt es sich bei den Störern doch um vorurteilsbehaftete „Randgruppen“, also Linke, Ausländer oder Obdachlose.

Diese Perspektive lässt die Richterin Riedel natürlich außen vor. Denn ihre Konsequenz wäre ein Angriff, der von den Polizeibeamten ausgehend willkürlich einen Passanten trifft. Zufällig einen mit Vorgeschichte.

3. Klassenkonflikt

Die Richterin stellt immer wieder Fragen zu Schullaufbahn, Alkoholkonsum und Familie des Angeklagten. Die Antworten sind bewegend und erzählen von einem Leben, das weit entfernt vom monatlichen Einkommen des Herrn Staatsanwalts Ricken auch zu einigen Vorstrafen geführt hat. In den letzten Wochen Haft will er sich kümmern, scheitert aber am Misstrauen von Vermietern und Arbeitgebern. Zur Haftentlassung „bekommt man 300 Euro und dann viel Glück“, schließt Kevin den Bericht. Die Richterin kommentiert abwesend: „Ja, wir haben es alle mal schwer im Leben“.

Schlechte Sozial- und Kriminalprognose, so übersetzt sie im Einklang mit Ricken „keine weitere Chance verdient“. Denn selbst nach den eignen Maßstäben ist das Justizsystem nicht geeignet Menschen wieder einzugliedern. Aus dem Raster fallen aber nicht alle gleichermaßen, sondern, wie in vielen Studien dargelegt, primär prekarisierte Menschen wie Kevin.

Hinzu kommt der Rassismus gegen BPoC, der im Prozess gleich doppelt wirkt. Zum einen in der Lebenserfahrung: Unterdrückung in der Schule, Demütigung durch die Polizei, gesellschaftlicher Ausschluss. Zum Anderen im Gerichtssaal, wenn sich die Richterin mitten im Prozess erkundigt, welches denn das Herkunftsland des Deutschen sei.

Vor der Justiz sind eben doch nicht alle gleich. Wie auch, wenn die Justiz auf das funktionieren des kapitalistischen Staates ausgerichtet ist, wenn das Privateigentum per Grundgesetz gesichert und eben jenes Grundgesetz sowie das Strafgesetzbuch von weißen Männern geschrieben wurde. Es ging und geht um ihre Interessen. Konsequenterweise haben Richterin und Staatsanwaltschaft in beeindruckender Kälte zur Schau gestellt, wie gleichgültig ihnen die Zukunft des nun wieder Inhaftierten ist.